Verdammt nah an der Realität. So nah, dass manche Hörer den Ohren nicht trauen

Erstellt von:
2 Mai 2016
In Blog
2.214 AUFRUFE

Noch nie konnte Musik zu Hause so akkurat wie heute gehört werden. Dies dank HD-Audio-Formaten, moderner DSP basierter Aufnahme- und Wiedergabeelektronik und nicht zuletzt dank neuen Entwicklungen in der Lautsprechertechnik. Exemplarisch ist die im Herbst 2015 lancierte Bowers & Wilkins 800 Serie Diamond (D3), die eine bisher nicht dagewesene präzise Umwandlung der elektrischen Toninformation in für Menschen wahrnehmbare Schallenergie erreicht. Mit Hilfe von Computer Simulation und langjähriger Erfahrung im Lautsprecherbau haben die Bowers & Wilkins Ingenieure einen Präzisionslautsprecher entwickelt. Ziel war, dem Audiosignal nichts hinzuzufügen und nichts wegzunehmen. Das war schon John Bowers Leitsatz als er 1966 die Firma gegründet hat. Heute sind wir diesem absoluten Ziel einen markanten Schritt näher gekommen, vielmehr schon ganz nah dran. Aber nicht jeder kommt mit dieser neuen Klangerfahrung auf Anhieb zurecht.

Zusammen mit HD-Audio Technologien erreicht man heute einen Realitätsgrad bei der Heimmusikwiedergabe den viele Hörer aus dem Alltag nicht kennen. Die PA-Anlage bei einem Pop Konzert, verbunden mit den absurden Lautstärken, erzeugt ein um mehrere Grade schlechteres Akustiksignal als eine gute Heimanlage. Der Publikumslärm trägt ein weiteres zur Klangtrübung bei.

Auch ein Besucher eines Klassikkonzertes hat je nach Sitzplatz und Saalakustik einen unterschiedlichen Klangeindruck. Vorne, nahe bei den Musikern ein helleres prägnanteres Klangbild mit einem hohen Direktschallanteil und mit zunehmendem Abstand von der Bühne ein hochtonärmeres, diffuseres Schallfeld, das im hinteren Teil des Saals fast ausschliesslich aus indirektem Schall besteht.

Die Mikrofone aber haben in der Regel – wenn der Toningenieur seinen Job gut macht – immer einen optimalen Platz. Der Tonmeister ist bemüht ein stimmiges ausgewogenes Abbild des Originalklangs aufzuzeichnen, den wir dann zu Hause über unsere hochwertigen Audio-Systeme geniessen. Es sei denn, dass der Produzent den Mastering Ingenieur anweist die Aufnahme auf Kommerzklang zu manipulieren (Pop Krankheit Dynamikkompression).

Ein modernes Audiosystem zeigt, was in einer Aufnahme drin steckt, präsentiert hervorragend aufgenommene Klangkörper packend und realistisch auf der imaginären Bühne.  Allerdings werden auch Schwächen einer Einspielung schonungslos an die Oberfläche befördert. Gute Aufnahmen klingen noch besser, aber Fehlerhafte noch schlechter. In früheren Dekaden der Audiotechnik fand aus heutiger Sicht eine Deckelung statt. Standardklang und Spitzenklang lagen noch näher beieinander. Die Grenzen der Technik sorgten für eine Nivellierung nach unten.

Das Klangspektrum ist heute wesentlich grösser als früher

Moderne Digitaltechnik bietet den Studios mit Digital Audio Workstations und zahlreichen Zusatzprogrammen (Plug Ins) einen immensen Werkzeugkasten zur Musikproduktion, mit Audioauflösungen weit jenseits des menschlichen Hörvermögens und des Schallspektrums unserer Instrumente. Man kann heute historische Aufnahmen verblüffend gut restaurieren. Im Pop Genre holt man die alten Bänder aus den Archiven und bearbeitet sie neu. Reissues suchen dann als HD Remaster erneut den Käufer. Retrosound und HD Audio koexistieren. Die Klangideale, Klangerwartungen der Musikliebhaber driften zwangsläufig auseinander, je nach Orientierungsachse des Hörers, je nach Musikgenre. Die einen Hörer wollen akkurate, präzise, originale Schallwandlung und die Anderen einen bestimmten Sound, haben eine persönliche, subjektive Präferenz. Die subjektive Präferenz orientiert sich meistens an der Hörerfahrung die man in den ersten dreissig Lebensjahren gemacht hat. Es gibt Studien, die behaupten, dass ein Musikliebhaber seine musikalischen Vorlieben (Genre, Stil) nach den ersten drei Dekaden so stark gefestigt hat, dass er sie für den Rest des Lebens beibehält. Erfahrungen zeigen, dass im Pop Bereich Kenner eines Albums das Original oft dem restaurierten Remaster vorziehen, trotz objektiven Klangverbesserungen (fokussierter, weniger Rauschen, prägnantere Details, korrigierte Phasenlage).

Mit dem Restaurieren alter Bänder auf der einen Seite und HD-Audio auf der anderen Seite stehen uns heute weit auseinanderliegende Klangwelten mit vielen Zwischenstufen zur Verfügung. Jeder wählt das, was ihn interessiert, berührt, fasziniert. Auch die Wiedergabeketten passen sich dieser Entwicklung an. Retrosund – weich, warm, ineinander fliessend, breit abbildend – und transparenter Klang – klar, präzis, durchhörbar, punktgenau, räumlich – sind die beiden Pole.

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Einordnen, zuordnen, beurteilen – aber wie?

Die neuen Klangwelten faszinieren ungemein. Nur ist dies nicht jedermanns Hörpräferenz. Die punktgenauen Klangbilder können irritieren, sind für einige Neuland und ungewohnt. Die gesteigerte Wiedergabepräzision führt zu neuen Klangwahrnehmungen. Ist das was wir nun hören korrekt? Verfärbt der Lautsprecher oder hören wir endlich wie ein Instrument wirklich klingt oder werden die Manipulationen im Tonstudio einfach schonungslos aufgedeckt? Eine Orientierungshilfe ist notwendig:

  1. In möglichst viele, unterschiedliche Aufnahmen reinhören und nicht voreilig Bewertungen machen.
  2. Sich der Produktionsmethoden in Aufnahme- und Mastering-Studios bewusst sein. Stark vereinfacht ergibt sich folgendes Schema:
    1. Klassik = integrales, homogenes Ereignis, Aufnahmen mit natürlichen Rauminformationen > Reproduktion des Ereignisses zu Hause.
    2. Pop = örtlich und zeitlich verteilte Produktion, Close Mike Technik (keine natürliche Rauminformation), Klangmanipulationen sind Teil des kreativen Prozesses. Das endgültige Werk (Klang) entsteht erst bei der Wiedergabe auf dem heimischen System.
    3. Diese stark unterschiedlichen Aufnahmeprozesse haben klangliche Konsequenzen. Für Mainstream Audiosysteme konzipierte, stark überzeichnete Aufnahmen klingen auf High End Systemen grässlich, die Manipulationen machen sich störend bemerkbar.
  3. Die Erfahrungen mit Live Musik in den richtigen Kontext stellen. Über PA-Analge dargebotene Musik ist kein Massstab.
  4. Album Booklet studieren. Hier finden sich oft nützliche Hinweise (Aufnahme Jahr, Art der Produktion, ausführendes Studio, Tonmeister).
  5. Pop Aufnahmen mit mittlerer bis starker Dynamikkompression oder misslungene Remasters sind unbrauchbar zur Beurteilung eines Audiosystems. Dies gilt genauso für historische Aufnahmen. Ausser man hört nur historische Aufnahmen oder nur komprimierte (Pop) Musik.

Klassik Einspielungen eignen sich hervorragend, um das Thema auch gehörmässig zu erfassen. In der Klassik stehen für sehr viele Werke zahlreiche Einspielungen aus unterschiedlichen Epochen zur Verfügung. Die Aufnahmen unterscheiden sich in Interpretation, Aufnahmetechnik und Klangästhetik. Zudem stehen nur akustische Instrumente zur Verfügung und das Aufnahmekonzept strebt die genaue Erfassung eines integralen Klangereignisses an.

Wir haben vier Aufnahmen von Mozarts Klavierkonzert Nr. 5, KV175 aus verschiedenen Zeiträumen zusammengestellt. Die beiden Sound-Pole Retro und Transparent sind die Endpunkte. Die Alben sind ihrem Klangcharakter entsprechend auf  der Achse positioniert.

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Auf einem transparenten Audio System lassen sich diese Klangwelten wunderbar nachvollziehen und in ein Wertesystem einordnen. Ein solches System zeigt die feinen Differenzen klar auf und belegt damit auch seinen neutralen Status als reine Wiedergabekette – nichts dazutun und nichts weglassen. Das System klingt so wie die Aufnahme auf der Klangachse positioniert ist.

Downloads

Sie finden zu jedem Musiktitel Informationen und eine Spektralanalyse, die hilft das gehörte einzuordnen. Diese objektive Betrachtung soll den Höreindruck ergänzen und damit eine sachlichere Beurteilung ermöglichen als dies mit konventionellen Produktdemos möglich ist.

Sie können die vier Demotracks mit diesem Link runterladen. Aus lizenzrechtlichen Gründen wurden die rund 8 Minuten dauernden Stücke auf 1.30 Minuten gekürzt.

quartett

Ein PDF Dokument mit Hintergrundinformationen zu den Musikbeispielen ist im Download enthalten oder mit diesem Link einsehbar.

infobild-klangwelten-pdf