Die Mär vom Originalklang: was ist wirklich auf der CD/LP drauf?

Erstellt von:
8 November 2017
In Blog
2.204 AUFRUFE

Originalklang und Livesound haben im audiophilen Vokabular der Musikliebhaber, bei Leuten die mit Wiedergabegeräten Handel trieben, aber auch in der Fachpresse einen festen Platz. Eine Aufnahme oder Wiedergabeanlage wird als qualitativ hochwertig eingestuft, wenn sie das Kriterium „nahe am Originalklang“ in hohem Masse erfüllt. Dies impliziert, dass ein Musikstück von einem oder mehreren Musikern irgendwann aufgeführt wurde und die Aufnahmetechnik den flüchtigen Moment für die Ewigkeit speichert. Beim Spielen, der später im Handel erhältlichen Aufnahme, fliesst dann der oben erwähnte Bezug zum Original als Beurteilungskriterium ein. Originalklang, wirklich? Hören wir tatsächlich ein real in der Vergangenheit stattgefundenes Klangeschehen? Offen gesagt, wenn überhaupt, dann trifft dies nur für Aufnahmen mit klassischer Musik oder Livemittschnitte eines Popkonzertes zu. Und auch bei diesen Aufnahmen werden Sie kaum eine unbearbeitete Rohaufnahme im CD/LP Regal finden oder als Download und Streaming File hören. Wir essen ja auch höchstens Früchte, Gemüse oder Sushi roh und auch hier haben die Dinger hoffentlich vor dem Verzehr einen Wasch- und Rüstprozess durchlaufen.

Wie nah ein Klang, beim Spielen über die heimische Anlage, einem echten oder vermeintlichen Original kommt hängt von mehreren Faktoren ab:

  1. Haben alle Musiker zeitgleich gespielt, oder wurden einzelne Instrumente und Stimmen zeitlich und räumlich getrennt oder teilweise getrennt aufgenommen. Im letzteren Fall hat es den originalen Gesamtklang nie gegeben, sondern nur Einzelteile, die erst in der Nachbearbeitung zu einem Gesamtklang zusammengesetzt werden.
  2. Die Saalakustik und die daraus resultierende Mikrofonierung und Mikrofonstandpunkte (Mic-Array bei Raumaufnahme).
  3. Werden die Mikrofone sehr nah am Instrument platziert (Close Mike Recording) oder wenn das Signal von elektrischen Instrumenten, wie E-Gitarre oder Elektropiano, direkt ins Mischpult eingespeist werden, wird keine Rauminformation mitaufgenommen (= mono Klang).
  4. Speicherung der Aufnahme in einem analogen oder digitalen Format. Mit welchen Eckwerten arbeitet eine analoge Bandmaschine (Geschwindigkeit, Bandmaterial, Vormagnetisierung). Mit welcher Auflösung wird das Signal ins digitale Format gewandelt.
  5. Erfolgt eine Nachbearbeitung und ist diese restaurativ oder kreativ.
  6. Distribution der Aufnahme in einem analogen oder digitalen Format. In welcher Auflösung wird das digitale Format angeboten. Als analoges Distributionsformat kommt heute nahezu ausschliesslich die mechanische Speicherung auf Schallplatte mit 33 U/s zur Anwendung.
  7. Zielpublikum und die damit höchstwahrscheinlich zu erwartende Qualität der Wiedergabegeräte.
  8. Ist ein Produzent überzeugt von „Laut verkauft sich besser“.
  9. Welche Klangästhetik wird angestrebt vom Künstler und Produzent und welche Philosophie vertritt der Tonmeister.
  10. Und immer ist die Qualität der eingesetzten Technik, im Studio und zu Hause, als Speicher-, Bearbeitung-, Transport- und Wiedergabemittel entscheidend.

Ein Mastering Experte gibt Einblick ins Thema

Serge Christen, Ton- und Mastering-Ingenieur vom Mazzive Sound Productions Studio in Bellmund / BE gibt im nachfolgenden Video, anlässlich einer Bowers & Wilkins Händlerschulung, Einblick in den Nachbearbeitungsprozess (Mastering) einer Aufnahme anhand von Hörbeispielen. Dabei gilt es verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. So kann nicht das gleiche Master für die CD- und LP-Pressung verwendet werden. Es ist ein erheblicher Unterschied ob ein Trägerformat 96dB (CD) oder rund 25dB (LP) Kanaltrennung hat. Dies muss im Mastering Prozess berücksichtigt werden. Auch die Hörerzielgruppe und die kommerziellen Absichten (primär) des Produzenten beeinflussen das klangliche Resultat. Er zeigt auch auf, wie heute oft im Mastering Prozess übertrieben wird und wie sich diese exzessiven Manipulationen negativ auf das Klangbild auswirken.

Begriffserklärung restaurative und kreative Nachbearbeitung

Die restaurative Nachbearbeitung versucht möglichst nah am Originalklang zu bleiben, Ziel ist in erster Linie Unzulänglichkeiten zu kompensieren oder eliminieren, die während des Aufnahmeprozesses entstehen. Dies können technische oder akustische Faktoren sein, Interpretationsmängel, wie Intonationsfehler einzelner Notenwerte aber auch Huster bei einer Liveaufnahme. Die modernen, digitalen Werkzeuge zur Nachbearbeitung ermöglichen die gezielte Einflussnahme auf einzelne Elemente in einem Gesamtklang. Quasi punktchirurgische Eingriffe, die so in der analogen Domäne unmöglich sind. Man kann diese Herangehensweise auch als dokumentarisch bezeichnen. Wir finden sie vor allem bei Aufnahmen mit klassischer oder rein akustischer Musik.

Die kreative Nachbearbeitung verändert den Originalklang (Gesamtklang oder einzelne Klangelemente) bewusst um Neues zu schaffen. Die Nachbearbeitung ist somit zusammen mit dem künstlerischen Ausdruck und Spiel der Musiker ein Kreationsprozess der zweiten Stufe. Der Grad der Manipulation kann hier von der bewussten Akzentuierung einzelner Elemente oder Stimmen eines Musikstückes bis zur vollständigen Verfremdung des Klanggeschehens reichen. Der Übergang von kreativ zu destruktiv ist fliessend. Genau genommen ist der kreative Prozess immer destruktiv, da er sich bewusst vom Originalklang wegbewegt. Definitiv destruktiv ist die heute allgegenwärtige, starke Dynamikkompression > LINK Blogbeiträger zum Thema. Die Produktionsmethoden bei Pop-Musik (hier als Oberbegriff für diverse Subgenres, wir Rock, R&B, Blues, Rap zu verstehen) erfordern zwingend eine Nachbearbeitung unterschiedlichen grades.

Link zur Website Mazzive Sound Productions